Fast ein Jahr ist seit der Bundestagswahl vergangen. Nicht nur die Regierungsbildung ließ unerwartet lange auf sich warten. Ein zentrales und viel besprochenes Thema war die Digitalisierung. Die FDP konnte sich unter anderem mit diesem Buzzword erfolgreich profilieren und den Wieder-Einzug in den Bundestag feiern. Doch wie relevant ist das Thema der Digitalisierung für die Parteien wirklich, was meint Digitalisierung überhaupt genau und wie ist der Stand in Deutschland? Auch wenn das große mediale Echo rund um dieses Thema abgeebbt ist, hat es an Brisanz keineswegs verloren.
Breitband für alle meinte die SPD, die Grünen waren der Überzeugung, sie würden die Digitalisierung gestalten, die CDU erklärte sie zur Chefsache und Social-Media-Profi Christian Lindner erhob sich und seine Partei zum Anwalt der Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich brächte. Nachdem der Wirtschaftsaufschwung oder die Arbeitslosenquote aufgrund positiver Zahlen nicht mehr zu Profilierung taugten, sogar das Thema Flüchtlingspolitik vor dem Wahlkampf abflaute, schien das Problem der Digitalisierung ein willkommener Identitätsmarker für die Parteien. Doch die Medienanalyse von Echobot zeigt ein anderes Bild. Echobot maß in über 60.000 Medien und über 5 Milliarden Social Media Posts zum Wahlkampf die Aussagen der Parteien zum Thema. Nur durchschnittlich 2,8 Prozent aller Statements befassten sich mit der Digitalisierung. Ein ernüchterndes Bild. Und eine fatale Fehleinschätzung der aktuellen Lage und der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Binäres Deutschland im Vergleich
Laut Studien, wie die des OECD oder der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften Acatech und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie liegt Deutschland im Mittelfeld des Digitalrankings auf Platz 17. Weit davor platzierten sich Länder wie Niederlande, USA, Südkorea oder Dänemark in fast allen Aspekten der Digitalisierung. Doch was meint Digitalisierung überhaupt? Ist es die Übertragung der haptischen Welt in die binäre Sprache der Einsen und Nullen? Meint es den Breitbandausbau, das Whiteboard und Computerkabinett in Schulen? Ja, auch. Digitalisierung hat mehrere Ebenen und Bedeutungen. Sie kann Zugang zum Internet ebenso bedeuten, wie die digitale Umwandlung von Informationen und Kommunikation, Automatisierung, Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Big Data, Cloud Computing, Virtual Reality oder Social Media und noch vieles mehr. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Bei Industrie 4.0 sicherte sich Deutschland in diesem Vergleich eine gute Position. Auch erreichen die Deutschen in der Nutzung der digitalen Technologien eine gute Platzierung im Ranking der Industrienationen. Sie nutzen Smartphones, lesen ihre Zeitung online, haben Social Media-Profile, kaufen Produkte digital und wechseln ihre Versicherungen per Mausklick. 75 Prozent der Deutschen sehen in der Digitalisierung viele Vorteile, den digital Natives folgen die Elterngeneration und sogar zumindest zum Teil die Großeltern nach. Dieses Endkundenverhalten beeinflusst die Digitalisierung der hiesigen Wirtschaft und führt zu zwei sehr verschiedenen Lagern.
Notgedrungen digital oder analoger Dinosaurier
Schon lange wurde durch das sich veränderte Konsumentenverhalten der Handel im B2C-Segment gezwungen, digitale und/oder mobile Kaufangebote zu machen. Und weil es meistens so gut klappt, werden über diese Kanäle auch das Kundenverhalten gemessen, die Zielgruppe verstanden und die Produkte sowie das Marketing daran optimiert und ausgerichtet. Aus der Not wurde eine Tugend. Durch Bonuskarten, Punktesammelaktionen oder innovative Messverfahren zur Analyse von Besucherströmen (siehe unser Startup Pyramics) wird sogar der stationäre Verkauf für Vertriebler und Marketer transparent, digitalisiert, mess- und optimierbar. Deutlich anders sieht es in Branchen und Betrieben aus, deren Fokus auf Geschäftskunden liegt – im B2B-Bereich. Zwar sind die meisten Industrien dazu übergegangen zumindest via Website wichtige Informationen zu Produkten, Preisen und Einsatzmöglichkeiten digital anzubieten. Der Verkauf aber findet weiterhin offline statt, ebenso wird eine Vielzahl an Informationen kaum miteinander vernetzt. Laut einer Commerzbank Studie zur digitalen Bewegung im deutschen Mittelstand spielt die Größe der Unternehmen keine Rolle auf ihren Digitalisierungsgrad. Einzig allein die Internationalisierung des Geschäftsmodells scheint sich positiv auf den Abbau analoger Strukturen auszuwirken.
Digitalisierung als Chance
Binäres Schlusslicht zu bleiben, bringt für das Unternehmen viele Nachteile. Analoge Dinosaurier verpassen Produktivitätssteigerungen und wichtige Umsätze, wenn sie weiterhin auf offline-Prozesse setzen. Zwar sehen laut dem IHK-Unternehmensbarometer 74 Prozent der Befragten in der Digitalisierung sehr viele Vorteile, aber nur knapp ein Viertel konnte sich digital „voll“ entwickeln. Dabei erzielten 50 Prozent der industriellen Großunternehmen und 27 Prozent des Mittelstandes durch die vollständige oder teilweise Digitalisierung ihres Unternehmens deutlich höhere Erlöse. Offline zu bleiben, bietet zudem die größte Angriffsfläche für Disruptionen durch digitale Trends. 94 Prozent aller befragten Unternehmen gaben an, dass sich die Digitalisierung der Welt bereits auf ihre Geschäfts- und Arbeitsprozesse auswirke. Für Nachzügler kann es also bald schon zu spät sein. Denn junge Startups drängen auf den Markt und wandeln ihn mit ihren technologischen Innovationen nachhaltig. Umso erstaunlicher, dass es weiterhin ganze Branchen gibt, die sich mit den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts so schwer tun. Laut dem Ergebnis einer Umfrage von IMD und Cisco unter 941 Top-Managern aus aller Welt sind die Energieversorger weit abgeschlagen, dicht gefolgt von der Branche Öl und Gas.
In der Steinzeit verharrt überraschender Weise die Pharmaindustrie. Dabei bietet dieser Branche die Digitalisierung auch für Laien viele offensichtliche Vorteile und Möglichkeiten. Medizinische Erkenntnisse, das Wissen um die Wirkung von Medikamenten, Simulationen zum Krankheits- und Therapieverlauf könnten mithilfe innovativer Technologien vernetzt sowie höchst individualisiert und optimiert werden.
Das Thema Digitalisierung an prominenter Stelle auf die Agenda zu setzen, ist sowohl für Deutschland, die Wirtschaft, ja sogar ganze Branchen dringend notwendig. Denn sonst bleibt man ohne nennenswerten Einfluss in einer digitalisierten Welt bestenfalls als Zaungast zurück.