Reverse Innovation – die Chance für revolutionäre Produkte

Jeder Markt für Produkte scheint irgendwann gesättigt. Große Konzerne expandieren dann für neues Wachstum gerne in andere Länder – oftmals in Schwellen- und aufstrebende Entwicklungsländer. Die Sättigung ist noch in weiter Ferne, die Konkurrenz, wenn überhaupt, kaum vorhanden und man kann den Markt noch selbst gestalten. So zumindest die Theorie. Das Vertriebsnetz wird vor Ort aufgebaut und die Produkte in abgespeckten Versionen zum günstigeren Preis auf den Markt geworfen. Doch der große Erfolg bleibt aus. Warum? Oftmals liegt die Ursache im Nicht-Erfassen und Nicht-Berücksichtigen der besonderen ökonomischen, sozialen und technischen Umweltbedingungen vor Ort. Wir zeigen, wie „Reverse Innovation“ helfen kann, neue Märkte zu erobern. Eine clevere Methode auch für Startups, die Branchenriesen der Industrienationen mit disruptiven Innovationen ordentlich durchzurütteln.


Ein namhafter, internationaler Hersteller von Rollstühlen will sein Wachstum wieder ankurbeln und dafür den Markteintritt in den aufstrebenden Ländern Asiens schaffen. In der deutschen Zentrale Hamburg tagt das Strategieteam und entscheidet sich, in den großen Metropolen Indiens den Pilot zu wagen. Die Statistiken des durchschnittlichen Käuferverhaltens, des Monatseinkommens sowie der potentiellen Zielgruppe werden ausgewertet und durchkalkuliert. Die in der Zentrale ebenfalls beheimatete Abteilung Forschung & Entwicklung wird beauftragt, den Best Seller aus der Produktreihe so anzupassen, dass er zu einem deutlich günstigeren Preis – gemäß des Einkommens einer typischen indischen Familie – produziert und vertrieben werden kann. Teure Materialien werden durch günstigere und aber auch qualitativ mindere Rohstoffe ersetzt, die Qualitätskontrollen auf die gesetzlichen Standards in Indien heruntergefahren und nach einigen Anläufen steht das Produkt, welches den neuen Markt erobern soll. Der Vertriebsleiter Thomas M., der mit großem Erfolg den Markteintritt in Großbritannien geleitet und umgesetzt hatte, wird in die Stadt Kalkutta versetzt und soll dort sowohl die Produktion als auch das Vertriebsnetz binnen zwei Jahre umsetzen. Ist er erfolgreich, soll von der 14 Millionen-Metropole ganz Indien als Markt aufgebaut und vorbereitet werden. Ist diese Etappe geschafft, will man den Markteintritt in die Nachbarländer anvisieren. Drei Jahre später tagt wieder das Strategieteam und zieht Bilanz: Das deutlich günstigere Produkt fand kaum Absatz, die verschiedenen Vertriebswege brachten auch nicht die Lösung, selbst die teure Marketing-Kampagne hatte kaum Einfluss auf die Verkaufszahlen – was war schief gelaufen?

Der Besuch vor Ort

Indien ist ab sofort Chefsache. Die Geschäftsführung reist mit einem straffen Plan nach Kalkutta. Mit dem Produktionsleiter, etlichen Krankenhäusern, den Vertriebspartnern, den Behörden, aber auch mit potenziellen Kunden soll gesprochen werden. Die Chefetage will einen umfassend Einblick bekommen und erfahren, wie der Markteintritt doch noch gelingen kann. Schnell wird klar, nicht die angeschlagene Vertriebskoryphäe Thomas M. trifft eine Schuld, sondern ihnen, der Geschäftsführung und damalige Leiter des Strategieteams. Folgende Fehlannahme verhinderte den Markteintritt: Indische Rollstuhlfahrer und ihre Umgebung unterscheiden sich von den westlichen Zielgruppen nur durch ihr Einkommensverhältnis. Der genaue Blick offenbart die Schwachstellen des Produktes: Für den Preis war die Qualität nicht ausreichend. Das staatliche Gesundheitssystem bezuschusst keine Kosten für Rollstühle und für eine Otto-Normalfamilie ist dieser kaum zu bezahlen. Für die mögliche Reparaturen mussten weite Wege und Kosten in Kauf genommen werden. Die Straßen sind schlecht ausgebaut. Ein normaler Rollstuhlfahrer in Indien benötigt mehr Sicherheit und Stabilität, um den Halt nicht zu verlieren und aus dem Rollstuhl zu stürzen. Auch sind die alltäglichen Wege viel weiter und damit der Kraftaufwand, um den Rollstuhl über lange Strecken zu bewegen, unendlich viel höher im Vergleich zu westlichen Nutzern. Die logische Folge war, dass geheingeschränkte Menschen sich entweder mit selbstgebauten Alternativen behalfen oder ans Haus gebunden blieben.

Neue Erkenntnisse für die Produktentwicklung

Das Unternehmen hätte diese Informationen mit der von Vijay Govindarajan entwickelten Methode „Reverse Innovation“ in die Produktentwicklung mit einfließen lassen können. Wesentliche Grundgedanken des Ansatzes sind folgende:

  1. Definiere das Problem unabhängig von der Lösung.
  2. Schaffe eine optimale Lösung und nutze dabei die Gestaltungsfreiheiten der Wachstumsmärkte.
  3. Analysiere die technische Umgebung hinter dem Verbraucherproblem.
  4. Lasse das Produkt von so vielen Interessensgruppen wie möglich testen.
  5. Nutze die Bedingungen der aufstrebenden Märkte, um global erfolgreiche Produkte zu entwerfen.

So wurde das Konzept eines Rollstuhles in Indien gänzlich neu gedacht sowie vor Ort Prototypen entwickelt und mit den Zielgruppen und Vertriebspartnern wie den ansässigen Krankenhäusern getestet. Auch die Materialien wurden kritisch geprüft und durch robuste Alternativen ersetzt. Statt wie üblich den Rollstuhl über die Räder anzuschieben, wurden Hebel ähnlich eines Crosstrainers entwickelt, die eine deutlich bessere Kraftumsetzung ideal für längere Strecken gewährleisteten. Ein Gurtsystem um Körper und Beine sowie ein stark nach vorne versetztes drittes Rad gewährleisteten die nötige Sicherheit auch auf nicht asphaltierten und unebenen Wegen. Auf alle anderen üblichen Features wurde zugunsten des Preises verzichtet. Bei den Komponenten achtete man darauf, dass sie bei einem möglichen Schaden von jedem Fahrradhändler günstig ausgetauscht werden konnten. Das Fahrrad war das am weitesten verbreitete und günstigste Verkehrsmittel mit dem dichtesten Vertriebs- und Reparaturnetzwerk in Indien.
So gelang nicht nur Schlussendlich der Markteintritt in Indien und im asiatischen Raum. Das Produkt war so innovativ, dass es nur mit wenigen marktspezifischen Anpassungen auch die westliche Käuferschicht eroberte. Denn es war unter anderem ideal geeignet, auch als Rollstuhlfahrer fernab der Straßen wieder in die Natur zu kommen und Outdoor-Aktivitäten nachzugehen – ein deutlicher Gewinn an Lebensqualität und Bewegungsfreiheit.

Basierend auf die oben beschriebene „Reverse Innovation“ folgten auch durch andere Unternehmen und Startups neue medizintechnische Entwicklungen – die mehr Lebensqualität und Freiraum für Rollstuhlfahrer versprechen.

Reverse Innovation ist eine smarte Methode, Bekanntes grundsätzlich in Frage zu stellen, Bestandsmärkte zu erobern und den Eintritt in neue Märkte zu schaffen – ideal also für junge Gründer auf der Suche nach disruptiven Ideen und Produkten.*

*Fallbeispiel angelehnt an die Entwicklung des GRIT Freedom Chairs in Kooperation mit dem MIT

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