„Groß sind die Werke des Herrn, erforschenswert für alle…“, preiste schon die Tora/das Alte Testament die göttliche Schöpfung und in der Tat, ob nun mit religiösem Hintergrund oder ohne, fanden und finden bis heute viele Forscher ihre Inspiration in der Natur. Sie versuchen, ihre Phänomene auf die Technik zu übertragen und schaffen so neue Innovationen. Größter Erfolg der Bionik, der Grenzwissenschaft zwischen Biologie und Technik, war die Eroberung des Luftraums. Ob nun Abbas Ibn Firnas, Leonardo da Vinci, Otto Lilienthal oder viele weitere Pioniere der Luftfahrt – ihnen allen dienten Tauben, Möwen, Albatrosse, Libellen und andere flugfähigen Tiere als Inspiration für ihre Innovationen und Weiterentwicklungen der Fluggeräte. Bis heute orientieren sich Ingenieure an der Natur. So will Airbus bis 2050 Flugzeuge analog eines Vogelskeletts bauen und den Flugverkehr im Schwarm organisieren. Auch an anderen Kassenschlagern der Bionik zeigt sich: Wer die Natur als Paten hat, muss nicht lange nach Innovationen oder zahlungskräftigen Kunden suchen.
Der Klettverschluss
Kletten sind nervig. Das fand auch George de Mestral, der nach seinen Spaziergängen die kleinen Samen regelmäßig von seinen Hunden abpflücken musste. Dank der kleinen elastischen Häkchen setzten sich die Samen an Textilien oder Fell fest, wurden so viele Kilometer weitergetragen, bis sie abfielen und neu auskeimten. Doch der clevere und einfache Mechanismus weckte das Interesse des Schweizer Ingenieurs. Während andere Spaziergänger die hartnäckigen Kügelchen schnell wieder loswerden wollten, untersuchte de Mestral sie und schaffte es, das Prinzip in ein Verschlusssystem zu überführen. 1951 meldete er seinen Klettverschluss zum Patent an und gründete die Velcro Industries zur Herstellung und Vermarktung seines neuartigen Verschlusses. Mit Erfolg. Mittlerweile kommt kaum eine Industrie ohne das Grundprinzip des Klettverschlusses aus. Über 3.500 Anwendungsfälle sind bekannt. So fanden Klettverschlüsse bei Textilien, in der Raumfahrt, der Automobilindustrie und sogar in der Medizintechnik Anwendung. Dank seines äußerst belastbaren, zugfesten, aber reversiblen Schnellverschlusses hält die industrielle Klette fast alles zusammen. Das Unternehmen Velcro ist mittlerweile zum internationalen Konzern aufgestiegen, welches auf vier Kontinenten über 3.000 Mitarbeiter beschäftigt und rund 260 Millionen Dollar jährlich umsetzt.
Der Lotos- und Salvinia-Effekt
Als Pionier der biologischen und technischen Grenzflächenforschung avancierte der deutsche Botaniker und Bioniker Wilhelm Barthlott mit der Entdeckung der selbstreinigenden Funktion von Lotos unter dem Rastermikroskop. Zwar ist das Prinzip seit über 2.000 Jahren bekannt und verhalf der Wasserpflanze zum Symbol der Reinheit und Erleuchtung, aber erst durch Barthlott wurde in den 70er Jahren daraus der technische Nutzen entwickelt. Die wirtschaftliche Bedeutung von selbstreinigenden Oberflächen nimmt seitdem ständig zu. Inzwischen gibt es eine Vielzahl an Produkten, die mit dem Lotos-Effekt veredelt werden, wie beispielsweise Häuserfassaden und Dächer, Gläser, Textilien und Keramiken oder Solarmodule und Autos. Die Einsatzmöglichkeiten scheinen schier grenzenlos. Ebenso zahlt auch der Salvinia-Effekt, den sich der Wissenschaftler 2007 in einem Patent vergolden ließ, auf das Konto von Barthlott ein. Er und seine Mitarbeiter untersuchten die extrem wasserabstoßende, superhydrophobe Oberfläche von Schwimmfarnen, die unter dem Wasser Luftpolster halten. Ursächlich dafür sind spezielle mikroskopisch kleine Härchen gepaart mit einer Art Flaum an der Blattoberfläche, die mit ihren Luftpolstern die Reibungseffekte deutlich mindern. Erste Tests zur Übertragung dieser natürlichen „Luftschmierung“ auf Versuchsboote wiesen eine 10 Prozent geringere Reibung auf. Reibung ist ein großer Kostenfaktor in der maritimen Schifffahrt – bei einer 10-prozentigen Reibungsreduktion ließen sich jährlich zweistellige Milliardenbeträge durch den geringeren Kraftstoffverbrauch einsparen.
Die Echo-Ortung
Piep, piep, piep… 1997 piepte es das erste Mal bei Volkswagen und überhaupt in der Automobilwirtschaft – es war die Geburtsstunde der Einparkhilfe. Vorbild dafür waren Fledermäuse und ihre echobasierte Navigation. Die nachtaktiven Fledertiere stoßen bei ihren Flügen mehrere Laute aus und können anhand der Lautstärke und des zeitlichen Verlaufs des Echos ein dreidimensionales Bild ihrer Umgebung erstellen: Informationen über die Entfernung, Richtung, Größe und Form eines Objektes werden so übermittelt. Gepaart mit dem typischen Warnsignal in stärker werdender Frequenz helfen nun diese mit dem Echo zurückgeworfenen Informationen Autofahrern bei toten Winkeln, engen Lücken oder als Talentsubstitution.
Das Fledermaus-Prinzip hilft aber nicht nur beim Einparken. Ohne die technische Übertragung dieses Systems wären die moderne Schifffahrt als auch der Flugverkehr kaum möglich. Während der Kapitän auf der Brücke durch die Echo-Ortung auch bei schlechter Sicht andere Schiffe sowie Küstenabschnitte erkennt, nutzen Fluglotsen ihr Radar zur Überwachung und Steuerung des Flugverkehrs.
Unendliches Innovationspotenzial
Man muss nicht unbedingt bibelfest sein, um die schier grenzenlose Innovationskraft der Bionik zu erkennen. Für eine Vielzahl an spezifischen Herausforderungen lassen sich Inspirationen in der Natur finden. Denn anders als unsere Industrie hat die Natur über 4,6 Milliarden Jahre Vorsprung bei der Entwicklung und Erprobung smartester und höchsteffizienter Lösungen. Was sich nicht bewährte, ging im Laufe der Evolution verloren.
Und auch demjenigen, der weiterhin nicht auf einen Propheten (der Moderne) zur Lobpreisung der natürlichen Innovationskraft verzichten kann, sei geholfen:
„I think the biggest innovations of the 21st century will be at the intersection of biology and technology. A new era is beginning.” Steve Jobs, Apple-Gründer