Man möchte meinen, irgendeine höhere Macht coacht uns in unserer Entscheidungskompetenz: Individualisierung ist der Megatrend. Selbst der morgendliche Kaffee wird für den Unentschlossenen zum Spießrutenlauf: Small, medium, large, extralarge, mit Koffein oder ohne, flavoured mit Haselnuss, Karamell, Macadamia, gesüßt mit Zucker, Süßstoff oder Stevia und die Milch kalt oder warm, geschäumt oder blank, laktosefrei, als Soja- oder Mandelmilchvariante, Bio oder fettreduziert. Noch bevor der eigene Server auf Betriebstemperatur läuft, muss eine Vielzahl an Entscheidungen getroffen werden – und das nur für eine Tasse Kaffee. Die Wirtschaft freut’s. Statt einem schnöden Filterkaffee für 80 Cent verkauft sie uns einen neuen Lifestyle für 3,99 Euro. Wie kam es dazu und warum wollen wir genau das? Wir haben eine ganz eigene Theorie…
Das waren noch Zeiten, als man nicht nur den eigenen Verwandten, sondern einer ganzen Generation mithilfe von Kaugummis, Rock’n’Roll-Musik, der Jeans oder mit Blumenkränzen und Peace-Zeichen einen Herzinfarkt verpassen konnte. Aber auch danach – in den 80er und 90er Jahren – konnte die elterliche Althippiegeneration mit Tattoos, pinken Haaren und ausgefransten Hosen aus ihrer spießigen Lethargie gerissen werden. Rebellieren war damals noch so einfach. Entweder man passte sich der gesellschaftlichen Werte- und Normenvorstellung an und lebte möglichst unauffällig oder man verlieh seiner Individualität in kleineren Interessensgemeinschaften Ausdruck: zum Beispiel als Punk, Heavy Mettler oder Emo. Diese Subkulturen gibt es selbstverständlich auch heute noch – nur stößt sich kaum jemand mehr daran. Oder wann haben Sie sich das letzte Mal brüskiert umgedreht, weil ein junges Mädchen mit halbrasiertem Kopf und riesigen Tunnels im Ohr ihre alten Chucks zum Shoppingnachmittag ausführte? Und in welche Subkultur sollte man sie überhaupt einordnen – geht das noch so einfach? Individualität ist mittlerweile kein Merkmal eines Generationenkonfliktes oder einer besonderen Gemeinschaft mehr – es ist gelebter Standard eines jeden Einzelnen und damit tatsächlich individuell.
Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Kleidung in der gleichen Kombination, den Haarschnitt mit der entsprechenden Farbe oder gar den selben Kaffee beim Bistro nebenan bestellt, wird immer kleiner. Und warum auch nicht. Wer will sich schon dem Kaffeegeschmack der Mehrheit beugen, wenn er die Wahl hat, ihn genauso zu bekommen, wie es sein Gaumen, seine Lebensmittelunverträglichkeiten und seine Nachhaltigkeitsüberzeugungen wünschen?
Die grundsätzliche Idee ist folgende: Wenn ich doch nur ein Leben habe, warum sollte ich erstens es nach den Vorstellungen anderer führen und zweitens, warum sollte ich mich mit Produkten „von der Stange“ begnügen, die ich nur mit Kompromissen in meine momentane Lebenssituation integrieren kann?
Was Philosophen und Kritiker als Verrohung und Ich-Zentrierung der Gesellschaft verurteilen, ist einfach ein neues Bewusstsein und eine neue Wertschätzung des Seins. Ich entscheide, was zu mir in genau diesem Moment meines Lebens passt und was nicht. Und da trotz aller Big und Massive Data ich und kein großer Hersteller wissen kann, wie mein Leben und meine Bedürfnisse aussehen, lebe ich meine Individualität auch in der Produktkonfiguration aus.
Produkte werden individuell
Alltags-Produkte an die eigenen Bedürfnisse anzupassen, ist eigentlich nicht neu. Entweder aus Mangel an Geld oder Alternativen, weil man gerne handwerkte oder bastelte oder schlicht aus dem Boykott der Wegwerfgesellschaft heraus, wandelte man Standardware in individuelle Lieblingsstücke um, die genau zu den jeweiligen Anforderungen passten. Aus dieser Not oder Tugend entwickelte sich vor einigen Jahren ein Trend und damit auch ein kapitalkräftiger Markt: Upcycling und Do-it-yourself. Blogs, Zeitschriften, Bücherberge und eine Vielzahl an Youtube-Videos brachten auch dem Ungeschicktesten die Freude an selbst konfigurierten Produkten nahe. Baumärkte erlebten ihre Renaissance und spezielle Shops für Bastler- und Handwerkerbedarf kommerzialisierten das Bedürfnis nach einzigartigen Produkten und kreativ gelebter Individualität. 2015 bezifferte sich der Gesamtmarkt im Bereich Do-it-yourself allein in Deutschland auf 229 Milliarden Euro. Unlängst sind auch Hersteller von Alltagsprodukten auf diesen Zug aufgesprungen. Sie nutzten den Trend und ließen beispielsweise Ottonormalverbraucher ihre Produkte entwickeln – im sogenannten Crowdsourcing. Ganze Wettbewerbe überschwemmen die Verbraucher beispielsweise mit den verschiedenen Bestandteilen und Pigmenten von Nagellacken und lassen ihre Kunden eigene Kreationen erfinden und einschicken. So spart man Kosten für Produktentwicklung und Trendforschung. Eine andere Ausprägung sind neue, hochentwickelte Konfiguratoren für verschiedenste Produktgruppen. Kaum ein Auto läuft mehr vom Band, was nicht an die Bedürfnisse des Bestellers maßgeschneidert wurde. Mittlerweile kann jeder gemütlich auf der Couch sitzend online am Tablet sein Traumauto selbst zusammenstellen.
Gleiches gilt auch für das Wohndesign – denn wo zeigt sich deutlicher, wer man als Person ist, als in den eigenen vier Wänden? Hier kann man seinem Stil, seinen Überzeugungen und seinen Vorstellungen vom Leben maximalen Ausdruck verleihen. Zeig mir deine Wohnung und ich sag dir, wer du bist. Das eigene Reich wird zur Leinwand, die fast ohne Einschränkung und ganz nach individuellen Wünschen, Träumen und Bedürfnissen gestaltet werden kann.
Und für all diejenigen, die keine Lust auf Lernvideos, Splitter und Blutblasen an den eigenen Händen haben, bieten mittlerweile auch Möbel-Konfiguratoren die ideale Möglichkeit, individuelles Wohndesign maßgeschneidert umzusetzen und damit seiner Interpretation von perfektem Wohnen gerecht zu werden. Ein spannender und stark nachgefragter Zukunftsmarkt – nicht nur für Menschen mit zwei linken Daumen oder großen Tunnels im Ohr.
Aus Do-it-yourself wird nun ein Stück digitales Do-it-for-me.