Während der deutsche Mittelstand noch über das Für und Wider von Industrie 4.0 philosophiert, überrollt ihn bereits die nächste industrielle Revolution. Entgegen der sonst üblichen Trägheit herrscht hier mittlerweile angespannte „Hab-Acht-Stellung“. Anders als bei der Vernetzung von Maschinen untereinander sind sich die Entscheider und CEO’ s aller Branchen der enormen Tragweite dieser Revolution bewusst. Sie heißt additive Fertigung – mit anderen Worten 3D-Druck. Bisher im Rapid Prototyping eine Nischenanwendung, entwickelt sich das 3D-Druck-Verfahren zu einem Allrounder in der Luft- und Raumfahrt, der Medizin, der Automobilindustrie, in der Konsumgüterindustrie wie bei Kleidung und Spielwaren als auch im Baugewerbe mit radikaler weil globaler Sprengkraft.
Gehen wir einen Schritt zurück: 1981 erfand Charles W. Hull die Stereolithographie, alias das 3D-Druckverfahren. In einem freien Raum materialisiert sich ein Gegenstand Schicht für Schicht. Via Paste und Pülverchen können damit Werkstücke aus den unterschiedlichsten Materialien gefertigt werden: aus Kunststoffen oder plastikähnlichen Bio-Werkstoffen, aus Keramik, aus Metall und mittlerweile sogar aus menschlichen Geweben oder in Kombination dieser verschiedenen Materialien. Anders als in irgendwelchen Kriminalfilmen liegt der Clou weniger darin, dass jeder beliebige Verbrecher mit einem 3D-Drucker und einer CAD-Vorlage funktionsfähige Waffen herstellen kann oder die Forschung unmittelbar bevorsteht, ganz Organe zu drucken und erfolgreich zu transplantieren. Das ist bereits zum Teil schon der Fall und soll nur einen kleinen Ausblick auf die Vielzahl an Anwendungsmöglichkeiten geben. Doch das eigentlich revolutionäre ist, dass man von überall auf der Welt und jederzeit die verschiedensten Dinge für fast unendlich viele Anwendungen binnen weniger Stunden passgenau und individuell drucken kann.
Ein Gedankenexperiment
Evaluieren wir die Möglichkeiten am banalen Beispiel eines kleinen Plastikautos. Sie gehen in den Laden oder bei Amazon shoppen, kaufen für Sohn, Nichte oder den Nachwuchs von Freunden zum Geburtstag ein kleines Plastikauto. Sie drehen es um und sehen das CE-Logo China Export – wie auf vielen anderen Produkten aufgedruckt. Es wurde in China im Auftrag eines Spieleherstellers aus teils unbekannten Kunststoffmischungen hergestellt, verpackt, einmal um die Welt umschifft, irgendwo via LKW in ein Zwischenlager transportiert, im Anschluss an die einzelnen Läden verteilt und wartete dort seit einigen Wochen oder Monaten auf Sie als verzweifelter Käufer schon im Spurt Richtung Geburtstagsfeier.
Warum wurde es überhaupt in China produziert? Lohnkosten, Infrastruktur und vieles mehr sprechen dafür und initiierten den Wirtschaftsboom in China bis hin zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht. Innerhalb dieses Kreislaufes haben Tausende Menschen und zig Unternehmen an Ihrem kleinen Plastikauto mitverdient, viele Tonnen an Energie für Produktion und Transport wurden verbraucht und schädliches CO2 ausgestoßen.
Anderes Beispiel: Drei Stunden vor Beginn der Feier fällt Ihnen auf, Ihnen fehlt das geeignete Geschenk für das Geburtstagskind. Es liebt kleine Spielautos. Sie gehen (online) zum Spielwarenhändler, suchen sich das geeignete Modell, die Farbe und ein paar Extras individuell aus und nebenbei berücksichtigen Sie auch noch die Sorgen der Eltern vor Weichmachern, schädlichen Farbdämpfen etc. Drei Stunden später kommt es frisch aus dem Drucker – Ihr ganz individuelles Geschenk, dass elterliche Bedenken beruhigt und Kinderaugen strahlen lässt. Die Tausende Menschen haben dieses Mal nicht an Ihrem Kauf partizipiert, CO2 und Diesel wurden eingespart und China ist ein Exportstandbein weggebrochen. Anstatt einem Jahr dauerte der gesamte Kreislauf bis hin zu Ihrem Kauf nur noch wenige Stunden. Auch das Recycling fällt nun deutlich leichter – die Rezepturen der Pülverchen und Pasten für Ihr Auto sind bekannt, können wieder getrennt und einem neuen Kreislauf zugeführt werden. Toll, oder? Wie immens sind wohl die Auswirkungen, wenn alle Spielwarenherstellter nur noch über Lizenzen und 3D-Druck die Kinderzimmer direkt aus Ihrer Stadt füllten? Nun geht das gleiche aber auch in der Textilindustrie, ganze Häuser können mittlerweile per 3D-Druck-Verfahren hergestellt werden. Jedes Ersatzteil für Ihre Haushaltsgeräte oder Ihr Erwachsenen-Auto könnte direkt in Ihrer Nachbarschaft gedruckt werden. Die ganze fertigende Industrie stellte statt einem globalen, internationalisierten Kreislauf auf regionale und deutlich kürzere Produktionszyklen um. Wie sehe dann unsere Welt und ihre darin herrschende Wirtschaft aus?
Vorsprung zählt
Noch liegen die Folgen des neuen Produktionsverfahrens in der Zukunft. Aber der 3D-Druck ermöglicht auf einmal eine Vielzahl an Möglichkeiten und birgt ungeahnte Veränderungen des globalen Wirtschaftssystems – mit disruptiven Konsequenzen nicht nur für China. Unternehmen, die sich schon jetzt dieser Technologie bedienen, können diesen entscheidenden Vorsprung zu ihren Gunsten nutzen. Denn dass die dreidimensionale Drucktechnik zu einer Schlüsselindustrie des 21. Jahrhunderts werden könnte, darin sind sich die Experten einig. Das Beratungsunternehmen McKinsey zählt den 3D-Druck zu den Technologien, die die Welt verändern werden. Mit dem 3D-Druck kommt es nicht nur zu einer signifikanten Verschiebung der aktuellen Wirtschaftskräfte. Auch Produktionskosten reduzieren sich um ein Vielfaches – schließlich macht Transport und Lagerung immer noch einen Hauptteil aus. Händler werden nun vermehrt zu Fabrikanten. Dieses disruptive Potenzial wird gern von Startups genutzt. Sie profitieren nicht nur vom Rapid Prototyping ihrer eigenen Produkte. Die großen Kostenpunkte für eine Auslands-Produktion, Transport und Lagerung können sie sich – anders als internationale Konzerne – schlichtweg nicht leisten. In bspw. Asien zu produzieren und dann ins Heimatland zu verschiffen, rechnet sich erst mit riesigen Stückzahlen. Da diese Kosten mit dem neuen Verfahren wegfallen, macht es sich insbesondere für junge Unternehmen interessant und lukrativ.
Noch wird es wohl einige Jahre ein Nebeneinander traditioneller Massenprodukte und additiver Einzelfertigung geben, bevor sich die neue Technik gänzlich durchsetzt. Wer sich dann aber diese Technik erst erschließen muss und langjährige Verträge mit Produzenten und Logistikunternehmen abgeschlossen hat, wird wohl in jedem Fall schon morgen das Nachsehen haben.
11. September 2017
Ich verfolge nun als Konstrukteur für Kunststoffteile schon eine ganze Weile die Entwicklung der additiven Fertigungstechnik mit großem Interesse. Und ich sehe auch, wie immer mehr Produkte basierend auf dieser Technik entstehen, die durchaus gegen die konventionell hergestellten Teile bestehen können. Allerdings sehe ich auch die z.Zt. noch immer bestehenden Grenzen.
Ich zähle mal auf: 1. die entstehenden rauhen Oberflächen müssen meist aufwendig nachbearbeitet werden. 2. auch die Veredelung durch Lackierung, Beschriftung, Polierung, Härtung usw. ist im professionellen Umfeld notwendig. 3. Die erreichbaren Stückzahlen sind gering weil die Fertigungsdauer sehr lange ist. 4. Von Ausnahmen abgesehen sind die erreichbaren Fertigungstoleranzen deutlich höher als bei den traditionellen Verfahren. Diese Liste ist noch nicht vollständig. Das sind die unwiderlegbaren Fakten. Wie kommt es dann, daß sich trotzdem die neue Technik langsam durchsetzt? Bei kleinen Stückzahlen können recht schnell erste Teile erzeugt werden, ohne dafür ein aufwendiges Fertigungswerkzeug erzeugen zu müssen. Es können komplizierteste Formen hergestellt werden, die bisher nicht (einteilig) machbar waren. Dennoch: die heutige Massenproduktion von Kunststoffteilen wird mit 3D-Druck noch in vielen Jahren (ich denke sogar in Jahrzehnten) nicht abgelöst werden können. Dies ergibt sich vor allem aus der sehr kurzen Zykluszeit des Spritzgußprozesses und der wesentlich besseren erzeugbaren Genauigkeit und Oberflächenqualität. Mein Fazit ist: der derzeitige Vorsprung der bestehenden Technologien in der Massenfertigung z.Bsp. Spritzguß von Kunststoffen und einigen Metallen oder Metall-Drehteile kann von 3D-Druck nicht so schnell eingeholt werden. Für Prototypen und komplizierte Teile in kleinen Stückzahlen, deren Anspruch nicht in der hochwertigen Oberfläche liegt, ist der 3D-Druck mit seiner Flexibilität mittlerweile aber zu Recht etabliert.
12. September 2017
Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Dort wo es um die Massenfertigung von Kunststoffteilen geht, ist Spritzguss auf absehbare Zeit das Verfahren der Wahl. Allerdings ergeben sich durch die Anwendung von 3D-Druck-Verfahren neue Möglichkeiten und veränderte Wertschöpfungsketten, abseits der Massenfertigung.
Individualisierung/Mass Customization ist damit relativ kostengünstig möglich geworden. Bei TinkerToys nutzen wir das gängige FDM-Verfahren und bearbeiten die individuellen Objekte in der Regel nicht nach. Die 3d-gedruckte Struktur ist Teil des Konzepts und soll sichtbar sein. Viele unser Kunden empfinden die Haptik dadurch „wie Holz“ und damit sehr angenehm. Die Fertigungstoleranzen sind für unseren Anwendungsfall völlig ausreichend. Es ist richtig, dass die Fertigungsdauer mit diesem Verfahren pro Objekt eher lang ist. Gleichzeitig sind die Kosten für ein Gerät jedoch sehr gering, was wiederum den kostengünstigen/skalierbaren Aufbau von flexiblen Fertigungskapazitäten ermöglicht.
Wenn es vor allem schnelle Fertigungszeiten geht, sollte man aktuell das CLIP-Verfahren nennen. Adidas setzt diese Technologie ein, um individuelle Schuhe in Massenfertigung zu produzieren: https://www.carbon3d.com/stories/adidas
Je nach Anwendungsfall und eingesetztem Verfahren ergeben sich weitere spannende Anwendungsfelder. Als Beispiel sei hier Materialmix in einem Objekt oder das direkte Einbringen von elektrisch leitenden Komponenten genannt. Auch in ganz anderen Bereichen wie der Medizintechnik wird 3D-Druck für individuelle Prothesen/Orthesen oder als Bioprinting große Bedeutung erlangen.
18. September 2017
Im 2. Absatz scheint es so, als wenn die Stereolithographie (SLA, mit Kunstharzen und UV-Licht-Lasern) nur für den 3D-Druck steht. Da gibts aber noch viele andere Verfahren, wie angedeutet: FDM, SLS, SLM, usw.
Zu den Startups:
Auf lange Sicht stele ich mir eher vor, dass ein Kunde nur die individuelle Datei kauft und sich dann sein Objekt zu Hause mit dem Wunschmaterial selber ausdruckt. Vielleicht geht das nicht bei allen Produkten. Zu große Objekte oder welche aus bestimmten Materialien/Materialkombinationen sind dann womöglich nur in 3D-Druck-Shops herstellbar.
@Jörg Hipp:
Wahrscheinlich dauerts noch viele Jahre (ob mehrere Jahrzehnte, glaub ich irgendwie nicht), aber es ändert sich zumindest was. Da drin scheint man sich ja einige zu sein.