Experte Michel Harms: „Crowdinvesting entspricht dem Zeitgeist”

Er ist der Experte für Crowdfunding und Crowdinvesting, ein objektiver Beobachter, der sich schon seit Jahren mit dem besonderen Finanzierungsmodell beschäftigt: Michel Harms. Der Betreiber der unabhängigen Portale crowdfunding.de und crowdinvest.de sammelt seit 2011 Informationen und Daten zum Crowdinvesting-Markt. Regelmäßig veröffentlicht er den Crowdinvest-Marktreport, eine einzigartige Untersuchung, die Entwicklungen aufzeigt und in den Medien Jahr für Jahr große Beachtung findet. Anlässlich des 10. Geburtstags von Seedmatch haben wir ihn getroffen und mit ihm darüber gesprochen, warum Crowdinvesting inzwischen so bekannt ist, welche Rolle Seedmatch dabei spielt – und was Plattformen noch besser machen könnten. 

Seedmatch: Michel, du hast bei deiner Masterarbeit 2007 bereits zum Thema Crowdfunding geforscht. Also noch vier Jahre bevor Seedmatch an den Start ging. Wie bist du damals auf das Thema gekommen und was hat dich daran interessiert?

Michel Harms: Es ging sogar noch eher los. Vor meinem Masterstudium habe ich ein Praktikum in einer Hamburger Innovationsagentur absolviert. Dabei bin ich auf eine Plattform in den USA aufmerksam geworden, die das Prinzip Crowdfunding bereits genutzt hatte. 2007 habe ich schließlich meine Uni-Abschlussarbeit über Crowdfunding geschrieben – von da an war ich angefixt von dem Thema. Ich habe dann die Seite crowdfunding.de reserviert und hatte dort auch vor, irgendwann selbst etwas zu machen. Aber es ist erstmal etwas anders gekommen. 

Seedmatch: Inwiefern anders? 

Michel Harms: Ich ließ das Thema zunächst ruhen, bis ich 2011 bei einem Treffen in Berlin die deutschen Crowdfunding-Pioniere, darunter auch den Gründer von Seedmatch, traf. Ab diesem Moment beschloss ich, dass meine Seite ein Informationsportal werden sollte, das alle Aspekte der Schwarmfinanzierung beleuchtet. Seither sehe ich mich als einen unabhängigen Orientierungsgeber und Beobachter der Crowdfunding- und Crowdinvesting-Szene. 

Seedmatch: Blicken wir noch einmal zurück: Als Seedmatch vor zehn Jahren startete, da war Crowdfunding nur wenigen ein Begriff und Crowdinvesting erst recht nicht. Wie hat sich die Bekanntheit dieser beiden Finanzierungsformen im Laufe der Zeit entwickelt?

Michel Harms: Das stimmt, als ich meine Masterarbeit geschrieben habe, da kannte das in Deutschland eigentlich niemand. Ich denke, einen enormen Push gab es 2011/2012 mit dem Crowdfunding-Projekt Stromberg. Eine Million Euro sammelten die Macher der TV-Serie Stromberg bei den Fans ein. Das ging damals durch alle Medien. Mittlerweile fragt bei mir auch niemand mehr nach, wenn ich sage, ich mache etwas mit Crowdfunding. Um aber genau sehen zu können, wie groß die Bekanntheit inzwischen ist, lasse ich seit 2015 jedes Jahr ein Marktforschungsinstitut 1.000 Menschen ein und dieselbe Frage stellen: Haben Sie schon einmal von Crowdfunding gehört?

Seedmatch: Und was ist die Antwort? 

Michel Harms: 2015 hatte etwa die Hälfte der Befragten (52 %) schon von Crowdfunding gehört und nur ein knappes Viertel gab an, zu wissen, um was es sich dabei handelt. Bei der letzten Umfrage 2020 antworteten drei Viertel (74 %) der Befragten, dass sie von Crowdfunding bereits gehört haben und fast die Hälfte wusste auch, um was es dabei geht. 

Seedmatch: Als Seedmatch 2011 startete, gab es quasi keine Konkurrenz. Das sieht heute anders aus. Was sind deine Beobachtungen in Bezug auf die Vielfalt der Plattformen?

Michel Harms: Es gibt heute natürlich viele Plattformen am Markt, man muss aber auch sagen, dass in den vergangenen zehn Jahren etliche Plattformen gestartet und dann wieder verschwunden sind. 2012 bis 2014 gab es einen Hype, da dachten viele, dass sie auf den Zug aufspringen können. Doch die Wenigsten konnten sich langfristig halten. Es ist schon eine beachtliche Leistung von euch, dass ihr mit Seedmatch als First Mover auch am Markt geblieben seid. Oftmals ist es ja der Second Mover, der aus den Fehlern des First Movers lernt und dann deutlich erfolgreicher wird, aber bei euch ist das anders. Ihr habt euch etabliert, Glückwunsch dazu! 

Seedmatch: Danke! Aber noch einmal zurück zu den unterschiedlichen Plattformen. Wie beurteilst du die Crowdinvesting-Szene denn heute?

Michel Harms: Das ist natürlich alles über die Jahre viel professioneller geworden, ganz klar. Und mit dem Immobilien-Crowdinvesting begann 2016 ja noch einmal eine ganz neue Epoche. Ich denke, dadurch kamen auch Anleger in den Markt, die man vorher noch nicht erreicht hatte. Und dann kam durch das Kleinanlegerschutzgesetz auch ein rechtlicher Rahmen hinzu, der sicherlich auch noch einmal dafür gesorgt hat, dass sich das Thema Crowdinvesting weiter verbreitet. 

Seedmatch: Bei Seedmatch geht es ja um Unternehmen, die eine Crowdinvesting-Kampagne durchführen. Und wir merken, dass das Interesse der Firmen an dieser Finanzierungsform sehr groß ist. Woran, meinst du, liegt das? 

Michel Harms: Crowdinvesting ist natürlich nicht für jedes Unternehmen zu jedem Zeitpunkt der richtige Weg, aber es ist auf jeden Fall eine neue Möglichkeit. Und es entspricht dem Zeitgeist. Schließlich wird es für Unternehmen immer wichtiger, sich zu öffnen. Viele versuchen über Social-Media in eine direkte Interaktion mit ihrer Kunden-Crowd zu kommen, sich transparenter und nahbarer zu zeigen, eben nicht mehr alles hinter verschlossenen Türen zu machen. Und da passt Crowdfunding- und Crowdinvesting voll rein. Deshalb ist es ein guter Weg, der auch richtig Mehrwert bieten kann.

Seedmatch: Du kennst die Crowdinvesting-Szene wie kein Zweiter, aber investiert du auch selbst in Crowdinvesting-Kampagnen?

Michel Harms: Früher habe ich noch etwas mehr investiert, aber generell kann ich sagen, dass ich nicht der rein renditeorientierte Investor bin. Ich muss das Unternehmen, das die Crowdinvesting-Kampagne startet, interessant und gut finden. Es muss mich thematisch und inhaltlich packen. Danach schaue ich mir an, ob ich eine reele Chance sehe, dass das Unternehmen mit seiner Idee erfolgreich wird, aber ich suche den Markt nicht gezielt nach neuen Anlagemöglichkeiten ab. 

Seedmatch: Aber gibt es für dich denn etwas, das die Crowdinvesting-Plattformen heute noch besser machen könnten?

Michel Harms: Ich denke, für alle Plattformen gesprochen, ist das Thema Transparenz sehr wichtig. Damit meine ich, dass man realistische Erwartungshaltungen schaffen sollte. Wenn Investoren wissen, worauf sie sich einlassen, dann sind auch Ausfälle zu verkraften. Ich sehe natürlich die Herausforderung der Plattformen, die richtige Balance zu finden, also einerseits Attraktivität nach außen auszustrahlen, um mehr Leute für das Thema und das eigene Angebot zu begeistern, aber dennoch offen mit Ausfällen umzugehen und nichts unter den Teppich zu kehren. Ich sehe eine Gefahr für die Branche, wenn Plattformen anfangen sollten, Anleger und Anlegerinnen mit übertrieben Versprechen zum Investieren anzulocken und dann zu enttäuschen.

Seedmatch: Realistische Erwartungen wecken ist sicherlich ein wichtiger Punkt. Wir bei Seedmatch weisen überall auf das Risiko hin – und wir bilden mit unserer Seedmatch-Academy unsere Anleger weiter, damit sie zu mündigen Investoren werden. 

Michel Harms: Das sind auch alles wichtige Punkte. Meiner Meinung nach ist Crowdfunding und Crowdinvesting auch als Antwort auf die alte Finanzindustrie und die Finanzkrise 2007/08 entstanden. Man wollte es besser machen, Zugang zu Kapital demokratisieren, Komplexität reduzieren, auf Augenhöhe mit den Anlegern sein. Mein Tipp an all die Plattformen, die mit einer solchen Vision gestartet sind, bei aller Professionalisierung und dem gestiegenen Wettbewerbsdruck in den vergangenen Jahren: Bleibt Euren Werten treu und besinnt Euch auf Euren Purpose! Also kein Wachstum um jeden Preis. Aber ich weiß, dass das alles eine große Herausforderung ist und ich finde, dass Plattformen wie Seedmatch dafür noch mehr gesellschaftliche Anerkennung verdienen.

Seedmatch: Was meinst du damit? 

Michel Harms: Schlagworte wie Innovationskultur, Startup-Förderung, Land der Ideen, digitale Transformation, gesellschaftliche Teilhabe und selbstbestimmte Bürger hört man aus der Politik immer wieder. Mit eurer Arbeit ermöglicht Ihr das ja alles. Es ist eine unternehmerische Leistung, die Vision der neuen Finanzierungsform Wirklichkeit werden zu lassen und so viele Millionen Euro für die Unternehmen einzusammeln. Diese Leistung hat meiner Meinung nach gesellschaftliche Wertschätzung verdient. Ihr seid ja nicht irgendein Projekt, das von der Bundesregierung für wirtschaftliche Impulse ins Leben gerufen und subventioniert wurde. Es ist eine riesige Challenge, die Bekanntheit und Akzeptanz für die neue Finanzierungsform zu schaffen, die Interessen der Unternehmen und der Anleger unter einen Hut zu bringen und gleichzeitig noch dafür zu sorgen, dass euer Business-Case aufgeht und Ihr eure Miete und Gehälter zahlen könnt. Ich habe großen Respekt davor, wie Ihr diese Challenge in den letzten zehn Jahren gemeistert habt.  

Seedmatch: Vielen Dank für die lieben Worte und für das Gespräch! 

Michel Harms: Ich danke euch und wünsche euch für die Zukunft alles Gute, weiterhin viel Mut für neue Wege und stets ein offenes Ohr für das Feedback aus eurer Crowd! 

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1 Comment

  1. Philip (www.crowd-investor.eu)
    17. April 2021

    An der staatlichen Förderung von Crowdinvesting müssen wir in Deutschland noch arbeiten. UK ist da mit Ihren SEIS und EIS Einkommensteuer-Erleichterungen, anwendbar auf Investitionen in Startups, deutlich besser aufgestellt um die Innovationskultur durch junge Unternehmen weiter zu fördern.

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